Als sie den Roman aus dem Geschenkpapier zog, hat sie die Augen verdreht.
Doch dann …
»Ein historischer Roman?«, fragte Clara mit wenig Begeisterung in der Stimme. Ihre Gäste wussten, dass sie eine Leseratte ist, aber das hier … !?
Skeptisch drehte sie das Buch mit dem blumigen Cover auf den Rücken und ließ ihren Blick über die ersten Sätze des Klappentextes wandern.
Aber eigentlich war es egal.
Historische Romane. Das bedeutete Anstrengung.
Verstaubte Charaktere, die in einer lang vergessenen Zeit übertriebene Dramen durchleben. Meist gespickt mit peinlichen Erotikszenen, in denen er seine Lanze in ihre Lustgrotte steckt.
Oder?
»Es ist wirklich gut«, versicherte Tante Thilda ihr und griff nach ihrer Kaffeetasse. »Und es spielt in Wien …«
Clare murmelte etwas Unverständliches, versuchte sich die Enttäuschung nicht anzumerken.
»Man erfährt Erstaunliches über das 19. Jahrhundert, die Autorin hat sehr viel recherchiert«, schob ihre Tante hinterher.
Mag sein, dachte Clara. Sie will aber keine Geschichtsstunde, sie will in Ruhe lesen und nach einem stressigen Tag. Sie braucht was Leichtes was zum Abschalten!
Normalerweise las sie eher mitreißende New-Adult-Romane oder vielleicht mal einen schönen Liebesroman.
Tante Thilda schien ihre Zweifel zu spüren. »Es gibt auch eine wunderschöne Liebesgeschichte …«
Typischer Fall von „lieb gemeint“
Sie nickte und versuchte, es überzeugend aussehen zu lassen. Bedankte sich und schaufelte danach extra viel Schlagsahne auf dem Apfelkuchen. Fehlte nur noch, dass sie gleich nach ihrem Liebesleben befragt wurde.
Lange lag das Buch auf ihrem SUB.
Ziemlich weit unten.
Mehr durch Zufall zieht sie es irgendwann heraus, als ihr nach etwas Leichtem zu Mute ist und alle anderen dunklen Buchrücken eher nach Thrillern aussehen.
Was war das noch gleich?
Ach jaaaa. Ihre Schultern sinken. Dieser olle Schinken von Tante Thilda.
Unwillkürlich wurde sie noch etwas müder. Aber momentan ist nichts anderes da.
Lustlos schlug sie es auf und begann zu lesen.
Schon nach wenigen Sätzen veränderte sich etwas. Da ist dieses Gefühl … es ist fast schon nostalgisch.
Aber das war noch nicht alles.
Vor allem war da diese Spannung, die sie nur ergriff, wenn sie wusste, dass sie etwas Gutes entdeckt hatte. Die Prota … sie war ja gar nicht steinalt! Und auch wenn der Roman im 19. Jahrhundert spielte, war die Sprache frisch.
Sie flog förmlich durch die Seiten. Hielt zwischenzeitlich den Atem an, warf das Buch weg oder drückte es an ihr Herz.
Sie ist nicht mehr zuhause im Bett, sondern lebt nur noch im verschneiten Wien. Hört das Hufgeklapper der vorbeifahrenden Kutschen und das Kratzen der Kufen auf dem Eis. Spürt die Winterkälte im Gesicht und riecht den frischen Schnee.
Viel zu schnell ist es 22:30 Uhr
Um diese Zeit macht sie für gewöhnlich das Licht aus.
Aber ein halbes Stündchen geht noch.
Oder eine ganze.
Sie kann einfach nicht mehr aufhören
Um 1:30 Uhr weiß sie, dass sie es am nächsten Morgen zutiefst bereuen wird, aber sie liest trotzdem weiter. Sie muss wissen, wie Nikolett mit der Situation umgehen wird, denn sie spürt eine besondere Verbindung zu ihr.
Viel zu lange hat sie im Schatten gelebt, sie soll sich nun endlich trauen!
Zwei Tage später ruft sie Tante Thilda an. Lebt noch immer gedanklich im historischen Wien und sehnt sich Freunde wie Nikolett und Julianna herbei.
»Was für ein Roman!«, sagt sie ergriffen. »Der … der war ja gar nicht wie ein sonstiger historischer Roman. Der war ja ganz anders, eher ein lockerer Liebesroman!«
Tante Thilda schmunzelt.
»Ich weiß, deswegen habe ich es dir ja geschenkt. Das Leben ist zu kurz, um es mit Bücher zu verbringen, die uns nicht berühren.«